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Inhalt:

 

Die Schriftstellerin und Regisseurin Johanna Tschautscher beschäftigt sich seit dem Jahr 2005 mit afrikanischen Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa. Sie realisierte zwei Filme und wurde Teil von Projekten, die die Situation verbessert haben. In diesem Buch erzählt sie über ihre letzten fünf Jahre, die sie in die Sahara geführt haben, nach Ghana, Italien, Brüssel, Deutschland und zu verschiedenen internationalen Organisationen und Firmen in Deutschland, Frankreich, den USA und Österreich.



Textausschnitt:

„Weit, weit weg von hier geschieht die Weltengeschichte meiner und der anderen Seele, aber das durch die Revolutionen bereits befreite Volk ruft seine demokratischen Mittel nicht auf, um auf Grund der Reziprozität das Leid der Millionen Unterprivilegierten erkennen und verändern zu wollen. Die Kulturen, ihre Geschichten, Überlieferungen, Symbole und Prioritäten, die heutzutage vorwiegend in Filmen transportiert werden, haben unsere Seelen noch nicht für diese Handlungen geöffnet.

In welcher Kultur leben wir? Was bildet unsere Seele und was limitiert sie? Was kann die Überlieferung? Was kann die Überlieferung noch nicht, da Macht, Gewinn und Siegerkultur stärker sind als ein Bewusstsein, das über den Lebenshorizont eines Hundes hinausgeht. Ein Mensch, der empfinden kann, dass Menschlichkeit zu Grunde geht, wenn ein Kind an Hunger stirbt.

In meinem Essay über Freud und Film schreibe ich von „der Kunst ein Mensch zu sein“, als Begriff dafür, wie die Kultur und die Überlieferung den Menschen formen und ich schreibe von der „Natur ein Mensch zu sein“, von einer mir gegeben erscheinenden Ordnung, die wir in und um uns haben und in der wir „Mensch“ werden. Die Kulturen machen diese Formen auf unterschiedliche Weise sichtbar und durchführbar. Der „Stoff“ ist derselbe. Es geht um die allgemeine „Menschlichkeit“, die „Humanität. Die Kultur bietet Formen an, strukturelle Chronologien, Riten, Traditionen, damit der Mensch, seine Seele, seine Psyche, sein Körper wachsen kann, sich entwickeln, entfalten, erkennen.

Ich wollte diesen Beitrag über Freud und Film schreiben, um erzählen zu können, dass jahrtausendelang kulturelle Entwicklungen stattgefunden haben, die unser Handeln bestimmen, aber dass wir – haben wir die Festlegung durch diese Strukturen einmal erkannt – frei sind, sie anders zu handhaben. Ich wollte davon schreiben, dass Kulturen und Überlieferungen Seele formen, und dass uns die bisherigen Formen an einen gewissen Punkt gebracht haben, der aber angesichts der globalen Grausamkeiten hinterfragt werden muss und verändert werden kann. In der „Natur ein Mensch zu sein“, liegt unsere Fähigkeit der Reziprozität, auch wenn die Kulturen diesen Begriff festgelegt und mitunter noch nicht verständlich gemacht haben.

Auf dem Weg nach Bonn im Zug durchdachte ich, dass das Symbol des „Sieges“ und des „Gewinnes“ innerhalb eines Lebensablaufes Punkte sind, die erreicht werden können, die aber von einer mehrdimensionalen Persönlichkeit sofort wieder verlassen werden müssen, da in ihnen keine Spanne für Dynamik – also Leben – liegen. Solange der Sieger dieses Phänomen nicht durchschaut, sucht er immer wieder eine neue Herausforderung, um wieder „siegen“ zu können, also Lebens-Spanne und Handlungsspielraum zu bekommen. Denn damit hat er erneut einen Weg vor sich, zu seinem Ziel! In dieser Dialektik Weg-Ziel, Herausforderung-Sieg liegt die nötige Lebensspanne für den Siegertypen, der so festgelegte Mensch braucht sich keine weiteren Gedanken mehr machen, denn seine Ziele sind definiert, die Herausforderung kann er differenzieren, damit bekommt er das Gefühl von Repertoire. Er kommt solange nicht auf die Idee, dass es auch andere Lebenskonzepte geben kann, solange er siegen kann.

Genau so überdachte ich, während ich mir Gedanken über Freud und Film machte, wie unser Geist und unsere Seele durch die Festlegung von Erzählstrukturen und kollektiven Grundmustern entwickelt, geformt und limitiert werden. Und das bereits in ganz frühen Entwicklungsstadien, der frühesten Kindheit.

Was ist „ein Sieg“? Was bedeutet „Gewinn“? Warum hat er eine so zentrale Stellung in unserem Denken eingenommen? Warum wollen wir Produkte „billig“ erwerben und nicht a priori „fair“? Liegt das an der Überlieferung, in der „Sieg“ und „Gewinn“ diese und jene Bedeutung haben und dieses und jenes für uns profitabel erscheinen lassen? Für das jeweilige „Ich“?

Filme, Träume, Archetypen, Symbole, Helden, Vorbilder gehören zur Bildung des Ich. Sie fordern das Ich heraus, werfen ihm Vorlagen vor, hinterfragen es, bieten an, ordnen, impfen. Die Archetypen sind komplexe, geistige Facetten, die in jedem „Ich“ vorhanden sind. Symbole wie „ „Geld“, „das Reich“, „die Macht“ sind Bestandteile eines Ganzen. Ich fragte mich, warum gerade der Gewinn eine so große Bedeutung in unserer Zivilisation gewonnen hat und wann die Überlieferung und die Kultur begonnen haben, dieses Phänomen zu überbewerten? Warum ist nicht „Empathie“ in das Zentrum von Geschichten gerückt? Warum nicht „Dynamik“? Warum gerade „Gewinnmaximierung“?

Rein rechnerisch zahlt sich diese Siegerkultur nicht aus. Europäische Firmen gewinnen am Rohstoffabbau in einem sogenannten Dritte Welt Land, die dortige Bevölkerung verarmt, die Männer greifen zu Waffen, Jugendliche in Nordafrika werden von Terroristengruppen rekrutiert genau so wie Jugendliche auf der ganzen Welt von mafiösen Zusammenschlüssen, da ihnen die dynamischen, vitalen Alternativen fehlen. Absurde Handelsstrategien führen zur Vernichtung von Kleinmärkten. Dumpingpreise zur Flucht von 1,5 Millionen Menschen. Hungersnöte. Flüchtlingslager, die zu Dauerwohnstätten wurden. Milliarden Euro für den Grenzschutz in Europa. Der Kampf gegen den Terror. Der Kampf gegen Korruption. All das kostet Unsummen an Geld.

Ist „der Markt“ und seine Gesetzlichkeit ein Ausdruck der Entwicklungsstufe unserer Kultur und damit unseres kollektiven Bewusstseins?

Jean Ziegler spricht vom zugrunde Gehen der Menschlichkeit an und für sich, wenn ein Mensch in einer Welt des Überflusses an Hunger stirbt. Das liegt an unserer Kultur, aber nicht in unserer Natur. In der menschlichen Natur sind grundsätzlich Neugier, Freude, das Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden die Motoren. In der Kultur sind es Schönheit, Reichtum, Ansehen, Macht, Geld.

Warum lassen wir uns von Entscheidungsträgern regieren, von Managern, die Großkonzerne und Großfirmen führen, die in Zeiten der globalen Krise immer noch satte Gewinne für sich herausschlagen? Warum stehen wir nicht geschlossen auf und sagen: Nein, wir wollen etwas anderes. Warum verteidigen wir nicht „unsere Wälder“, wie es die Penan tun? Warum bleiben wir Komplizen? Wann und an welchem Punkt in unserer Kultur und unserer persönlichen Menschwerdung haben wir aufgehört „das Ganze“ einzufordern, in dem wir Teil und Ganzheit gleichzeitig sind?

Liegt das an den überlieferten Chronologien?

Für mich stellte es sich nach längerer Auseinandersetzung so dar, als wären diese „Elemente“ unserer Geschichte und Kulturen in einem bestimmten Zeitalter und unter bestimmten Umständen eben so und so benützt worden, aber für mich war immer klar, dass sie auch anders benutzt werden können, da es für mich Freiheit auch abseits der Überlieferungen gibt. Darum verstand ich Jean Ziegler sofort, als er sagte: Nehmen wir ein Blatt Papier und schreiben wir doch andere Regeln!

Welche Kultur, welche „Ordnung“ ist für mich heute relevant? Mit welchen Elementen, Archetypen, Strukturen und Chronologien würde ich Geschichte schreiben wollen? Immer noch mit den Mustern der griechischen Tragödien, in der Eifersucht, Eroberung von Ländern und Frauen, Stolz und Rache detailliert beschrieben werden und Amor genau so personifiziert ist wie der Mut? Was wir von Kindheit an lernen, ist, dass eine Geschichte funktioniert, weil ihr ein Konflikt zu Grunde liegt. Ein Gefälle zwischen arm und reich zum Beispiel, zwischen mächtig und ohnmächtig, gut und böse. Die Elemente, die archetypischen Figuren, werden angeordnet, um ewig diese Geschichten in neuen Variationen zu erzählen.

Wann entwickeln wir Neues?